Die West Coast Offense: Aus der Not eine Tugend

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Es schwingt ein Hauch von Mysterium mit, wenn man von der West Coast Offense spricht. Das Rückgrat der 49ers unter Bill Walsh, eine der erfolgreichsten Dynastien der NFL-Geschichte, hat dem Football seinen Stempel aufgedrückt wie nur wenige andere Systeme. Doch was ist die West Coast Offense, was macht sie aus. Und darüber hinaus: Welchen Einfluss hat sie noch heute in der NFL?

Aus der Not eine Tugend

Es ist eine dieser Geschichten, wie es sie in der NFL so viele gibt. Eine dieser „Was-wäre-Wenn“-Geschichten. Man muss sich einfach fragen: Was wäre gewesen, hätte sich Bengals-Rookie-QB Greg Cook in Week 3 der 1969er Saison nicht an der Schulter verletzt?

Cincinnati hatte bis dato unter Offensive Coordinator Bill Walsh ein stark vertikal ausgerichtetes Passing Game gespielt. Walsh, der Mitte der 60er noch unter Al Davis in Oakland gearbeitet und dessen Liebe für ein vertikales Passspiel aus erster Hand kennen gelernt hatte, musste sich plötzlich komplett umstellen – und bewies unglaubliche Anpassungsfähigkeit. Er sollte aus der Not eine Tugend machen.

Schließlich konnte Cook, dessen Karriere schließlich aufgrund der schweren Verletzung auch wenige Jahre später endete, genau wie dessen technisch limitierter Nachfolger Virgil Carter die vielen weiten Pässe schlicht nicht (mehr) konstant werfen. Doch es ist nicht nur die Geschichte vom neuen Quarterback-Stil, welche die Einführung der West Coast Offense bedingte.

„Wir waren ein Expansion-Team und wir konnten kein Laufspiel aufziehen“, erklärte Walsh später, „uns fehlte die Kadertiefe bei den Offensive Linemen und das Talent bei den Running Backs.“ Die Lösung: Walsh wollte das Spiel durch die Luft kontrollieren und sich die Defense für die tiefe Pässe mit seinen kurzen Pässen, anstatt mit dem Running Game, zurechtlegen. In gewisser Weise drehte er so auch den Spieß um: Das Passing Game öffnete die Tür für das Running Game, und nicht, wie damals üblich, umgekehrt.

Die Markenzeichen des Dynasty-Herz

Das wichtige zuerst – was machte die West Coast Offense aus? Klar ist aus rein personeller Sicht: Der Quarterback muss präzise sein, schnell und sicher durch seine Reads gehen und gute Entscheidungen treffen. Roll-Outs und Bootlegs verlangen zudem eine gewisse Beweglichkeit. Die Receiver müssen Routes perfekt laufen und Tackles brechen können. Bei Running Backs und Tight Ends ist vor allem Vielseitigkeit gefragt.

  1. Die Defense soll dazu gezwungen werden, den ganzen Platz zu bearbeiten. Durch die West Coast Offense wird sie horizontal wie vertikal getestet und durch die vielen kurzen Pässe über die Mitte werden (meist eher langsame) Linebacker dazu gezwungen, Receiver zu decken. Das Beispiel und einer der typischsten Spielzüge hierfür ist der Slant, welcher dem Quarterback bis zu fünf Pass-Optionen liefert. Typisch: Die Receiver über die Mitte können in Idealsituation aus einem kurzen Pass einen langen Raumgewinn machen, die Running Backs aus dem Backfield dienen als Absicherung:Slant West Coast
  2. Timing, Timing, Timing. Walsh war in San Francisco später frühzeitig dafür bekannt, dass er im Training Würfe bis zur Unendlichkeit wiederholen ließ. Immer dann, wenn Joe Montana sie nicht millimetergenau dorthin warf, wo Walsh sie hin haben wollte, oder ein Receiver seine Route nicht auf den Zentimeter und den Schritt genau lief. Die Schritte des Quarterbacks sind mit den Laufwegen der Receivern penibel genau präzise abgestimmt.
  3. Mit den Receivern und den Running Backs sollen im Second Level der Defense Mismatches erschaffen werden. Gleichzeitig gilt es, der Defense keine Chance zu geben, sich in bestimmten Situationen auf irgendetwas einzustellen. Das Running Game soll genauso überraschend eingesetzt werden wie die tiefen Pässe, beides baut auf dem kurzen Passspiel auf.
  4. Obwohl Walshs Offense in einer Zeit, als die NFL von knallhartem Running Game geprägt war, lange als eine „Finesse Offense“ belächelt wurde, spielt das Running Game auch in der West Coast Offense durchaus eine Rolle. Vielseitige Backs sind gefragt, die laufen, Pässe fangen und in Pass Protection helfen können. Wie elementar das Running Game dennoch ist zeigt, dass einer der absoluten Basis-Spielzüge in Walshs Offense ein Run war – der 49ers Sweep, gar nicht allzu weit von Lombardis berühmtem Spielzug entfernt:

49ers Sweep

Diese Grundsätze haben sich über die Jahre in der NFL etabliert und sind noch heute überaus präsent. Später hierzu mehr, doch bereits der Coaching Tree von Bill Walsh lässt darauf schließen:

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Ursprung und Verwechslung

Auch Walsh selbst stammte aus einem namhaften Coaching-Tree. Der spätere Head Coach der San Francisco 49ers hatte unter dem großen Sid Gillman gelernt, der als einer der Mitbegründer der heutigen Pass-lastigen NFL gilt und als einer der ersten Coaches konstant auf ein vertikales Passspiel setzte. Unter anderem Al Davis, Dick Vermeil (Schöpfer der „Greatest Show on Turf“ in St. Louis mit Kurt Warner) und Chuck Noll (coachte die Steelers zu vier Super-Bowl-Titeln) kamen ebenfalls aus der Gillman-Schule.

Don Coryell setzte Gillmans Arbeit schließlich in San Diego fort und 1979 wurden die Chargers der erste AFC-Western-Champion, der mehr Pass- (541) als Laufspielzüge (481) eingesetzt hatte. Unter Coryell führten die Chargers die Liga in sieben der acht Jahre was Passing angeht an. Einst galt Coryells Offense als die West-Coast-Offense – doch eine Verwechslung sollte das ändern.

Ende der 70er Jahre übernahm Walsh die 49ers als neuer Head Coach, nachdem er einen kurzen Abstecher ans College gemacht und Stanford trainiert hatte. San Francisco war zu dem Zeitpunkt eines der schwächsten Teams der Liga und erneut musste Walsh viele Lücken mit seinem Scheme kaschieren. Später sollte er selbst einmal sagen: „Die Coryell-Offense benötigte viele talentierte Spieler. Einen Quarterback, der den Ball da hin bekommt, und wirklich viele Spieler, die rennen können. Coryell hatte das Talent schon und hat es brillant eingesetzt.“

In San Francisco schließlich, mit Quarterback Joe Montana, den Experten lange als zu schmächtig sahen und ihm einen zu schwachen Wurfarm attestierten, und Receiver Jerry Rice, der den perfekten West-Coast-Offense-Receiver symbolisiert, schlug schließlich die große Stunde von Walshs Offense. Innerhalb von wenigen Jahren hatte er das Team von einem der schwächsten der Liga zu einem Contender gemacht, 1982 und 1985 gewannen die Niners den Super Bowl. Walsh hatte schnell den Ruf als „Genie“ weg – sehr zum Leidwesen einiger Kollegen.

Als Bill Parcells‘ Giants San Francisco schließlich im Dezember 85 aus den Playoffs warfen, stichelte Parcells: „Was denkt ihr jetzt von dieser West Coast Offense?“ Die Bezeichnung sollte Walshs Scheme nie mehr loswerden, wenngleich er selbst nie etwas anderes als „Midwest Offense“ oder „Cincinnati Offense“ akzeptierte.

Und heute?

Doch wie sieht es mit dem aktuellen Bezug aus? Zugegeben, die reine West Coast Offense gibt es in der NFL nicht mehr, das Spiel hat sich schlicht weiter entwickelt. Dennoch sind zumindest viele ihrer Kern-Prinzipien (Timing-Routes, präzises Passspiel 5 bis 20 Yards innerhalb der Line of Scrimmage, Fokus auf Yards nach dem Catch, vielseitige Running Backs) noch präsent.

Bei Walsh blieb der Quarterback für gewöhnlich under Center, Drei- oder Fünf-Step-Drops waren die Regel. Danach feuerte er meist einen schnellen Pass, ob per Slant oder per Swing, ab. Was das Personell angeht hatte er das System für eine Standard-Pro-Set-Offense konzipiert, sprich zwei Backs in Split-Alignment, zwei Wide Receiver und ein Tight End.

Seit Walsh hat sich die West Coast Offense mit der Shotgun Formation und mehr Spread-Formations verändert – und doch ist ihr Stempel noch immer sichtbar. Als erstes seien hier die Green Bay Packers genannt. Als Packers-Geschäftsführer Ted Thompson Mike McCarthy 2006 als Head Coach holte, war dessen Verwurzelung in der West Coast Offense eines der stärksten Argumente für McCarthy.

McCarthys kam 1993 in Kansas City an seinen ersten NFL-Job, wo er nicht nur den neu verpflichteten Joe Montana als QB-Coach trainieren sollte, sondern auch unter Paul Hackett arbeitete – ein ehemaliger Assistent von Walsh. Schon bei der Universität von Pittsburgh hatten McCarthy und Hackett eine Version der West Coast Offense installiert und von Montana lernte er weitere Details.

In Green Bay arbeitete er zunächst (erfolgreich) an der Passgenauigkeit von Brett Favre, ehe 2008 schließlich die Übergabe stattfand und Aaron Rodgers Favre ersetzte. Unter McCarthy verbesserte auch Rodgers seine Passgenauigkeit weiter und arbeitete dabei vor allem an seiner Fußarbeit. „Zu lernen, wie ich das Timing zwischen meinem Drop und jeder Route hinbekomme, war für mich sehr wichtig“, gab Rodgers bereits 2011 zu.

Vor allem der Slant, den Green Bay gerne und oft verwendet, prägt noch heute das Bild der Packers-Offense. McCarthy und Rodgers haben ihre Version von Walshs System geschaffen und nutzen weiter viele Spielzüge daraus.

Team to Watch: Die New York Giants

Neben den Packers sollten Liebhaber der West Coast Offense in der kommenden Saison vor allem ein Auge auf die New York Giants haben. Die G-Men wagten in der Vorsaison einen großen Schritt und holten Ben McAdoo als neuen Offensive Coordinator, übrigens aus Green Bay, um die West Coast Offense zu installieren. Logischerweise gab es dabei noch die üblichen Kinderkrankheiten, immerhin hatte QB Eli Manning davor zehn Jahre in einem anderen System gespielt.

Doch die Fortschritte machten sich auch statistisch bemerkbar. Die Giants-Offense erhöhte ihre Yards pro Spiel im Vergleich zum Vorjahr um 59,7 Yards, Manning gelangen neue Franchise-Rekorde was Attempts (601), Completions (379) und Completion Percentage (63,1 Prozent) angeht. Seine 4.410 Passing-Yards waren der zweithöchste Wert in der Franchise-Geschichte. All das kam nicht von ungefähr.

„Letztes Jahr haben die Vorbereitungen in den OTAs und im Training viel Zeit benötigt. Ich denke, es hat sich gelohnt, aber du musst einfach vieles lernen. Ich wollte bei jedem Snap genau wissen, was ich mache“, blickte Manning jüngst auf der Team-Website auf die Vorsaison zurück.

Auf die kommende Saison freue er sich aber bereits: „In diesem Jahr habe ich ein großartiges Gefühl, was das System angeht. Mein Körper fühlt sich gut an und zu wisse, wo ich mich verbessern muss, ist besser, als ein komplett neues System lernen zu müssen.“

Die Verpflichtung von Pats-RB Shane Vereen als Pass-Catching-RB wird die Giants enorm weiterbringen. Gleichzeitig gilt es zu hoffen, dass Victor Cruz zurückkommt: Wenn Cruz im Slot starten kann und Odell Beckham Jr. Outside spielt, wird es schwer, die West Coast Offense der Giants in den Griff zu bekommen.

Adrian Franke

6 Gedanken zu “Die West Coast Offense: Aus der Not eine Tugend

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  2. So ein Thema sollte man doch in der Schule im Geschichtsunterricht lehren 😀

    Hat Spaß gemacht, den Artikel zu lesen. Allen voran der geschichtliche Hintergrund und die Entwicklungen bis heute finde ich interessant. Hast du den Coaching Tree selbst erstellt? Wenn ja: Chapeau, ist richtig gut geworden, weil man direkt erkennt, welche Coaches von Walsh gelernt haben und da erkenne sogar ich einige, obwohl ich die NFL erst seit knapp drei Jahren verfolge. Danke auch für das Team to Watch. Dank eines OBJ wird man ja sowieso dazu „gezwungen“, sich einige Spielzüge der Giants anzugucken, aber jetzt werde ich mir ihre Spiele mal genauer anschauen. Somit stehen neben den Seahawks jetzt mittlerweile die Jets, Giants, Titans, Vikings und Dolphins auf meiner Watchlist für die kommende Saison 😀

    Abschließend: Sehr schön, dass du in den letzten Wochen so viel gute Arbeit hier geleistet hast 🙂

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    • Danke! Geständnis: Das Bild zum Coaching Tree ist von Wikipedia – und ich war froh, den nicht komplett selbst zusammensuchen zu müssen, da hatte ich auch noch ein paar Wissenslücken 😉

      Aber ich finde Coaching Trees in der NFL generell etwas echt faszinierendes, lohnt sich, da als mal reinzuschauen. Man sieht da doch echt viele Philosophien, die fortgesetzt werden – und erkennt, warum bestimmte Teams spielen, wie sie spielen.

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  3. Immerhin bist du ehrlich 😛
    Was noch cool wäre: Ein Vergleich der einzelnen West Coast Offense Schemes. Ist zwar glaube ich viel Arbeit, aber die West Coast Offense dient ja den meisten Teams in der NFL als Grundlage, wenn ich mich nicht irre und da unterscheiden sich die Teams ja größtenteils. Das würde ich als nächsten Artikel noch cool finden, aber du hast sicherlich noch genug Ideen und dein Wochenrückblick macht sich auch sehr gut! 🙂

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